Einige Tage nach ihrer Geburtstagsfeier, welche sie im engen Kreis und einer für sie ausgelegten Andacht verbracht hat, habe ich Schwester Anneliese besucht. Ich sitze auf dem Sessel in ihrem Wohnzimmer. Gut platziert. Mit dem Blick auf ihren Balkon. Ich sehe auf viele Blumensträuße. Sie sind von ihrem Geburtstag. Es ist eine Frage der Zeit, dann werden sie unansehnlich sein. Aber die nächsten Blumen warten schon. Die Begonien. Seit 23 Jahren blühen sie – Jahr für Jahr- in einer üppigen Pracht auf ihrem Balkon. Über Winter kommen sie in den Keller. Im März schaut Schwester Anneliese nach ihnen. Und wenn sie ausreiben, ist der Frühling in Sicht. Und schon bald, wenige Wochen später sind die Begonien auf ihrem Balkon zu bewundern. Sie wurde in diesem Jahr nicht nur 100 Jahre alt. Zum 80. Mal jährte sich auch ihr Tag des Eintritts in das Mutterhaus. Schon als Kind hatte sie Kontakt mit Diakonissen, damals in Seickertshausen. Schon früh reifte in ihr der Wunsch eine Schwester zu werden. Als sie sich jemandem anvertraute, erhielt sie als Antwort: Das kannst du doch nicht werden. Dieser Satz saß tief. Da sie ein Pflegekind war, behandelte sie ihr Umfeld anders. Doch das sollte sich ändern. Als sie bei einem Arzt in Oberaula beschäftigt war, sprach ihr die Frau des Arztes Mut zu: „Probier’s doch mal.“ Noch an demselben Tag hatte sie an das Diakonissenhaus geschrieben. Die Antwort war positiv, sie sollte sich in der Krankenpflegeschule vorstellen. Wieder war es die Frau des Arztes, die ihr den Impuls gab. Sie fuhr umgehend nach Kassel, stellte sich im Mutterhaus vor und alles Schriftliche wurde festgemacht. Allen Schwierigkeiten zum Trotz: Ein Traum wurde wahr. Oder ein Moment der Gnade: In den Worten ihres Konfirmationsspruchs: Ich habe dich je und je geliebt; darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. (Jer. 31,3) 1944 nahm sie ihre Tätigkeit auf. Zuerst im Esszimmer des Mutterhauses: hier lernte sie hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Später kam sie auf die Kinderstation des Diakonissenkrankenhauses. Es folgten die Bombennächte über Kassel. Im Gedächtnis blieb der 27.09.1944, da wurde das Diakonissenhaus samt Krankenhaus getroffen. Doch die Arbeit und der Dienst am Menschen gingen weiter, allen widrigen Umständen zum Trotz. Schwester Anneliese kam dann nach Hofgeismar. Hier erlebte sie den Einmarsch der Amerikaner. Weitere Arbeitsstationen folgten: die Auswärtsstation des Stadtkrankenhauses, die Innere Abteilung bei Dr. Plackert in Gudensberg, in der Chirurgie auf der Frauenstation bei Schwester Trinchen, Einweisung in die Apotheke. 1949 legte sie das Krankenpflegeexamen ab. Ein weiterer Meilenstein war geschafft. Der Weg dahin lief durch eine unruhige und schwierige Zeit. „Der liebe Gott hat durch alles hindurchgeholfen“, beendet sie diesen Teil ihrer Schilderung. „Der Tag der Einsegnung war einer der schönsten Momente in meinem Leben“, stellt Schwester Anneliese fest. Was die Außenwelt ihr abgesprochen oder nicht für möglich gehalten hatte, wurde sichtbar für alle Wirklichkeit. Zusammen mit 5 weiteren Schwestern wurde sie 1950 eingesegnet. Danach folgten zwei Jahre im Kinderkrankenhaus „Kind von Brabant“, danach ging sie wieder zu Schwester Trinchen auf Station, nachdem diese klar gestellt hatte: Ich brauche Schwester Anneliese! Nach Jahren vielseitigen Einsatzes stellte ein Arzt fest, dass ihr Blutbild schlecht war und verordnete „Höhenluft“. So sandte sie das Mutterhaus in die Gemeinde Schwarzenfels in die Rhön als Gemeindeschwester. Sie löste eine altgediente Schwester ab. 30 Jahre sollte sie nun hier ihren Dienst verrichten. Sie versorgte Alte und Kranke, Junge und Alte. Sie arbeitete in der Kirchengemeinde mit, hielt Andachten, Frauenkreise und Kindergottesdienst. Als sie in Schwarzenfels ihren Dienst aufnahm, gab es auf jedem Dorf ringsum eine Diakonisse. Über die Jahre aber ging eine Schwester nach der anderen ins Mutterhaus zurück in den Feierabend. Nachwuchs gab es keinen mehr. Schwester Anneliese ergriff die Initiative und sprach mit dem Bürgermeister. Sie machte deutlich, dass es für die soziale und pflegerische Versorgung der Menschen in den Orten eine andere Lösung brauchte. So kam es zur Gründung der Diakoniestationen in der Verwaltungsgemeinschaft Sinntal, zu der auch Schwarzenfels gehörte und die Versorgung der Menschen war auch zukünftig damit sichergestellt. 1989 kehrte Schwester Anneliese ins Mutterhaus nach Kassel zurück und ging in den Feierabend, sie zog ins Amalienhaus ein, in dem sie bis heute selbständig in einer Wohnung lebt. Die Losung ihres Geburtstages aus dem Jahr 1924 hat sie sich zuschicken lassen, sie steht in 2. Mo 14,14: Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet still sein. – Eine Überschrift über ihr und ein Motto für ihr Leben. Im Rückblick stellt sie fest. „Ich war mit Leib und Seele Schwester und habe meine Entscheidung nie bereut. Schließlich war Gott in allem mein Helfer.“ Artikel: Frau Martina Tirre

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